Sommer, Sonne, Social Anxiety

June 21, 2021

Sommer, Sonne, Social Anxiety

Lena Severin

Der Sommer ist mittlerweile eingezogen, um wohl erst einmal zu bleiben. Die Temperaturen steigen, die Inzidenzen sinken, Restaurants und Bars öffnen, Freunde und Familien dürfen wieder zusammen kommen. Es fühlt sich so an, als könnte man es wagen, einmal kurz durchzuatmen und wieder ein bisschen zu leben. Vielleicht sogar fast so wie vor Covid. Die große Freiheit für die einen, für andere das genaue Gegenteil. Eine globale Erscheinung: Von Social Distancing zu Social Anxiety. Mal mehr, mal weniger, aber es betrifft viele, ganz egal ob introvertiert, extrovertiert oder irgendwo dazwischen. Deshalb möchte ich hier mit dir meine Erfahrungen, Tipps und Tricks teilen, um dich in dieser “Corona-Sommerpause”, vor allem mit dir selber wohl zu fühlen.

  1. Social Anxiety: Kein Fremdwort mehr
  2. Normalisierung ist gefragt und beginnt bei dir
  3. How to: Post-Lockdown-Leben mit Social Anxiety
  4. Auf und ab, statt up up up.

1. Social Anxiety: Kein Fremdwort mehr

Der Sprung in das öffentliche Leben birgt für viele mehr oder weniger Unbehagen. Das alltägliche Leben kann in diesen Tagen überfordern, Energie zehren und Überwindung kosten, besonders in den städtischen Gebieten. Über den freiheitsbeschränkten Winter hinweg sind die eigenen vier Wände zum Wohlfühl-Nest geworden. Draußen war kaum etwas los – klar, es ist ja auch kalt, alles was Freizeitspaß macht, war geschlossen oder verboten. Bilder von menschenleeren Straßen in sonst belebten Städten gingen um die Welt. Und jetzt? Zumindest hier in München sank die Inzidenz auf einmal so schnell, dass gefühlt von Heute auf Morgen die Außengastro wieder öffnen durfte, mittlerweile sogar auch der Innenbetrieb. Öffentliche Plätze, bekannte Straßenecken, Parks und Gärten sind gefüllt mit Menschen, wo man auch hinsieht. Social Distancing scheint wieder zum Fremdwort geworden zu sein. Wenn sich dir bei diesem Bild der Magen zusammenzieht, wird dir der Begriff Social Anxiety mit Sicherheit bekannt sein. Das Unbehagen, die Angst vor sozialer Interaktion, besonders in Gruppen, bekommt eine ganz neue Bedeutung. Psychologen berichten davon, dass ihre Patient*innen sich seit den Lockerungen vermehrt über Probleme äußern, wieder am öffentlichen Leben teilzunehmen, überhaupt raus zu gehen und unter Menschen zu sein. Aber Social Anxiety zieht häufig neben der eigentlichen Angst weitere belastende Erscheinungen mit sich.

Zum einen liegt natürlich das Unwohlsein oder eben sogar die Angst, sich mit Menschen zu umgeben, sozial zu interagieren, beäugt zu werden, zugrunde. Aber als würde das allein nicht schon genug das Leben erschweren, treten leider häufig noch weitere Gedankenmuster auf:

  • Schuldbewusstsein, weil man die neue Freiheit nicht genießen kann, obwohl man sich monatelang nichts anderes gewünscht hat, als in einem Café oder einer Bar mit Freunden sitzen zu können.
  • Druck, den man auf sich selber ausübt, weil man nicht so sozial sein kann, wie im Leben vor Corona.
  • Eifersucht oder Neid auf die Menschen, die scheinbar ohne Probleme nahtlos wieder an ihr vorheriges Leben anschließen können, und das ganz ohne Social Anxiety.
  • Das Gefühl mit diesen Emotionen komplett allein zu sein, als Mensch nicht richtig zu funktionieren.
  • Scham für all diese Emotionen und Bedrücktheit, statt Erleichterung und Freiheitsdrang.

2. Normalisierung ist gefragt & beginnt bei dir

Der erst Schritt ist, sich bewusst zu machen, dass man absolut nicht allein mit diesen Gefühlen ist. Auch wenn es so erscheint, wenn man sich die sorglosen Versammlungen anschaut. In vielen Köpfen spielen sich vielleicht genau die gleichen Gedanken ab. Das weiß ich, weil ich selber einer dieser Köpfe bin. Vor ein paar Wochen musste ich an einem ziemlich warmen und sonnigen Samstag Mittag einkaufen gehen, aber der Gedanke daran raus zu gehen, einmal quer über den Gärtnerplatz (ein ziemlich beliebter Treffpunkt hier in München) zu müssen und dann auch noch zurück, hat dazu geführt, dass ich den halben Tag prokrastiniert habe, während sich der Platz mit immer mehr Menschen füllte. Wären meine Vorräte nicht komplett leer gefuttert gewesen, hätte ich es, glaube ich, gelassen, aber irgendwann habe ich mich aufgerafft und war fast froh, mein Gesicht hinter Maske und Sonnenbrille verstecken zu können. Die Blicke der Menschen, die mit ihren Drinks locker zusammen standen, in Restaurants entspannt ihren Kaffee schlürfen konnten, waren schwer zu ertragen. Noch schlimmer, was das Gedränge an den Ampeln. Und dabei geht es gar nicht um die Angst mich mit Corona anzustecken, sondern einfach um das Unwohlsein mich vor so vielen Menschen nun präsentieren zu müssen. Als ich die Wohnungstür wieder hinter mir schließen konnte, habe ich gemerkt, wie viel Energie mich dieser kurze Einkauf gekostet hat.



Fakt ist: In den sozialen Medien teilen gerade jetzt super viele Menschen ihre Ängste und Sorgen mit dem aktuellen Zustand. Mir hat das enorm geholfen, überhaupt zu realisieren, dass es eine viel weiter verbreitete Nebenwirkung der Pandemie ist, als ich vorher dachte. Wir müssen uns alle an diesen neuen Zustand gewöhnen, an die neu gewonnen Freiheiten. Und nur weil es nach Außen hin so wirkt, als würden all die Menschen am Gärtnerplatz das Beisammensein restlos genießen, heißt das nicht, dass nicht auch einige innerlich gerade daran arbeitet, sich an diesen Zustand zu gewöhnen und damit wohl zu fühlen.

Social Anxiety ist vollkommen normal, besonders für die absolut unnormale Zeit, in der wir leben. Mir das vor Augen zu führen, hat das Draußensein für mich schon mal spürbar erleichtert. Um das Leben aber diesen Sommer wieder so richtig genießen zu können, halte ich mich an ein paar weitere Tipps:

3. How to: Post-Lockdown-Leben mit Social Anxiety

Nimm den Druck raus! Dein Sozialleben muss nicht von 0 auf 100 hochgefahren werden, nur weil es wieder mehr Möglichkeiten gibt, deine Freizeit zu gestalten. Vergleich deine eigene Aktivität nicht mit der von anderen in deinem Umfeld. Jede*r geht im eigenen Tempo und das ist auch völlig fein. Also genieß deine me-time, ohne Schuldbewusstsein, dann kannst du dich auch bald wieder freuen auszugehen.

Vertraue deiner Intuition! Nimm dich bewusst aus Situationen heraus, in denen du Überforderung, Stress und Angst verspürst. (Diesen Tipp empfehle ich tatsächlich für jede Lebenssituation). Wenn es zu viel ist, dann bleib’ daheim, mach dir einen schönen Tag mit dir selber. Wie? Schau mal im nächsten Punkt vorbei.

Atempausen einplanen, Balance halten! Was auch immer dir persönlich Energie und Ruhe gibt, plan es in deine Woche ein. Ein ruhiger Spaziergang am Abend, Netflix, entspanntes Kochen, ein Bad nehmen, Aufräumen, Ausmisten, das Home-Projekt vom Lockdown endlich umsetzen, und und und. Wer mit sich selber im Gleichgewicht ist, fühlt sich auch unter Menschen wohler.

Regenpausen nutzen! Schnapp dir den Regenschirm und geh eine Runde durch die Stadt, in die Läden, setz dich in ein überdachtes Café. Mit weniger Menschen um dich herum, wirst du die neuen Freiheiten sicher genießen können. Und beim nächsten Sonnenstrahl, hast du vielleicht Lust, selber gemütlich irgendwo zu sitzen, auch wenn dann mehr los ist.

Einladen statt Ausgehen! Hol’ dir deine Freunde ins Haus oder auf den Balkon, veranstalte eine kleine Dinner-Party, ein privates Cocktail-Tasting, oder sitzt einfach nur bei netten Gesprächen zusammen.

Rede es dir von der Seele! Sprich mit deinen Freund*innen, mit deiner Familie darüber, wie du dich fühlst. Du wirst bestimmt feststellen, dass viele deiner Erfahrungen geteilt werden. Wir müssen darüber reden, wie es uns jetzt geht. Nur so können wir den emotionalen Zustand der Welt irgendwie normalisieren.

4. Auf und ab, statt up up up

Fortschritt ist kein exponentielles Wachstum. (Für alle, die das Wort “exponentiell” zuletzt in der Oberstufe gehört haben: Eine Linie, die sich gleichmäßig nach oben bewegt). Fortschritt geht auf und ab. An manchen Tagen fühlen wir uns eben besser und an anderen haben wir das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen.
Akzeptiere dein Tempo! Egal wie viel Zeit du brauchst, es ist ok, dass du sie brauchst, um dich wieder an diese neue Welt zu gewöhnen. Sei nicht so hart zu dir selbst, wenn du Schwierigkeiten hast dich anzupassen. Hab’ Geduld und schau dich einmal um. Wir stehen alle jeden Tag gemeinsam vor der selben Challenge. Wenn ich mich das nächste mal unwohl und überfordert fühle, unter Menschen zu sein, werde ich mich umsehen und mir genau das in meine Gedanken rufen. Bist du dabei?